See below for (a summary of) this text in English.
Hieronder staat de tekst van de bladzijden 168-194 uit
met informatie over het volgende.
Below is the text of pages 168-194 from
with information on the following.
p. 168
Die Welt im Kartenbild
Atlanten von Velhagen Klasing
Die am 17. Mai 1873 durch den Vertrag zwischen dem Bielefelder
Stammhaus, Otto Klasing und Dr. Richard Andree ins Leben gerufene
Geographische Anstalt von Velhagen & Klasing in Leipzig hatte in den
ersten Jahren ihres Bestehens keinen leichten Stand. Richard Andree,
der aufgrund seiner ausgedehnten geologischen und ethnographischen
Studien und Arbeiten bestens qualifiziert war, erwies sich zwar von
Beginn an als ein souveräner wissenschaftlicher Leiter des Unter-
nehmens, doch vermochten weder er noch Otto Klasing die anfäng-
lichen Probleme der technischen Organisation der Anstalt befriedigend
zu lösen. Um sofort produktionsfähig zu sein, hatte man kurzerhand die
kleine kartographisch-lithographische Anstalt von Otto von Bomsdorff,
die für die Hiltlschen Kriegsbücher die Kartenbeilagen geliefert hatte,
aufgekauft und dein einstigen Besitzer die Aufsicht über das noch junge
technische Personal anvertraut. Aus dieser übereilt herbeigeführten
Konstellation entwickelte sich jedoch keine gedeihliche Zusammen-
arbeit, und man sah sich bereits nach wenigen Monaten genötigt, den
Anstellungsvertrag von Otto von Bomsdorff wieder zu lösen. Erst im
Frühsommer 1874 konnte mit dem aus der berühmten Petermannschen
Schule in Gotha stammenden Lithographen Gustav Marx ein viel-
seitiger Praktiker engagiert werden, der aufgrund seiner beruflichen
Erfahrungen imstande war, die non ungeübten Zeichner und Stecher
anzuleiten und die technischen Arbeitsabläufe zu koordinieren.
Von seiner allzu optimistischen Prognose, die Anstalt werde sich,
sobald sie »einige Paradstücke« vorgelegt habe, aus den aus Fremd-
aufträgen erzielten Gewinn selbst trägen, mußte Otto Klasing schon
p. 169
früh abrücken. Der kleine technische Mitarbeiterstab – bis zum Ende
des Jahres 1875 standen lediglich zwei Kartenzeichner und zwei
Lithographen unter Vertrag – war mit der Ausführung von Karten-
illustrationen für den Leipziger Buchverlag und mit den Vorarbeiten zu
den von Andree projektierten Kartenwerken so weit ausgelastet, daß die
dringend erwünschten Arbeiten auf fremde Rechnung nur in begrenz-
tem Umfang angenommen werden konnten. Gegen die Anstellung
weiterer Mitarbeiter sperrte sich jedoch August Klasing mit guten
Gründen, da die relativ hohen »General-Kosten«, die der Geogra-
phischen Anstalt in den ersten Jahren beträchtliche Defizite bescherten,
fast ausschließlich aus Personalkosten bestanden. Um Richard Andree
für die Position des wissenschaftlichen Leiters zu gewinnen, hatten Vater
und Sohn Klasing ihm ein jährliches Minimum von 1500 Thalern zu-
sichern müssen, und die Summe der an die technischen Mitarbeiter zu
zahlenden Löhne bewegte sich jährlich in etwa der gleichen Größen-
ordnung. Überdies fiel die Anlaufphase des Unternehmens in die Zeit
der wirtschaftlichen Krise, die der vom überhitzten Spekulationsfieber
der »Gründerjahre« verursachte Börsenkrach ausgelöst hatte. Kredite
waren nur zu teuren Konditionen zu haben, und das blieb für den be-
sonnenen Kaufmann August Klasing das entscheidende Argument.
Es war deshalb gewiß schon ein Lichtblick, daß die Geographische
Anstalt 1875 als Erstlingswerk im eigenen Verlag eine in leuchtenden
Farben kreisrund gestaltete lithographierte Karte von »Leipzig und
Umgegend « im Maßstab von 1:40 000 vorlegen konnte, die bei Hotel-
betrieben und anderen Dienstleistungsunternehmen eine gute Auf-
nahme fand. Aus den roten Zahlen des Bilanzjahres 1874 hatte man in
Leipzig und Bielefeld ohnehin übereinstimmend den Schluss gezogen,
den Schwerpunkt des Unternehmens von der Akquisition von Fremd-
aufträgen zur Entwicklung eines eigenständigen geographisch-karto-
graphischen Verlags zu verschieben. In den Fragen der inhaltlichen Aus-
gestaltung des Verlagsprogramms war man sich freilich nicht immer
einig. Daß Richard Andree und Otto Klasing ausgerechnet mit einem
Volksschulatlas ins kartographische Geschäft einsteigen wollten, löste in
Bielefeld heftiges Kopfschütteln aus. »Schulatlas«, lautete August
Klasings lakonisches Votum vom 5. Februar 1875, »an dem Knochen
Wird von vielen genagt.« 90 In der Tat war gerade dieser Marktsektor
besonders heiß umkämpft, nachdem die preußische Regierung 1872 die
Stundentafeln für das Fach Erdkunde in der Volksschule erhöht und die
p. 170
[Bild]
Verlagsvertrag zwischen Velhagen & Klasing, Otto Klasing und Dr. Richard
Andree vom 17.5.1873, Beginn Seite 1.
Verwendung von Atlanten im Unterricht empfohlen hatte. Nicht wenige
Verleger fühlten sich durch den Erlaß ermutigt, mit neuen Atlanten den
etablierten kartographischen Anstalten Konkurrenz zu machen.
Aber die Leipziger ließen sich von den Warnungen aus Bielefeld
nicht beeindrucken. Sie hielten an ihrem Konzept fest, obwohl ihnen
bewußt war, daß sie nur über den Preis eine Chance hatten, in den Markt
einzudringen. Doch ihr Mut zum Risiko zahlte sich letzten Ende aus:
p. 171
1876 brachten sie Richard Andrees Allgemeinen Volksschulatlas in vierund-
dreißig Karten zum Lockpreis von einer Mark heraus. Innerhalb von vier
Jahren wurden nicht weniger als 150 000 Exemplare verkauft. Darin ein-
geschlossen waren eine »Baltische Ausgabe« für die russischen Ostsee-
provinzen, die der Rigaer Verleger Kymmel von 1879 an vertrieb, und
eine italienische Version mit dem Titel Atlante Scolastico, für deren Ver-
breitung der Verlag der Mailänder Zeitschrift l’Esploratore gewonnen
wurde. Im Laufe der Jahre kam eine Reihe von Regional- und Lokalaus-
gaben hinzu. Einen zusätzlichen Kaufanreiz stellten die jeweiligen
»Heimatkarten« dar, die den Schulen in den nichtpreußischen deut-
schen Staaten als Gratisbeilage angeboten wurden. Grundlegende Neu-
bearbeitungen, von denen die erste bereits 1879 erfolgte, sorgten zudem
dafür, daß die Absatzziffern konstant hoch blieben. Bis zum Ausbruch
des Ersten Weltkriegs erlebte der Atlas 59 Auflagen; die Zahl der ver-
kauften Exemplare dürfte indessen schon um die Jahrhundertwende die
Millionengrenze überschritten haben.
Aufgrund des extrem niedrig kalkulierten Ladenpreises, den man
über Jahrzehnte hinweg beibehielt, bewegten sich die Erträge aus dem
Atlantengeschäft verständlicherweise auf einem bescheidenen Niveau.
Immerhin verblieb der Geographischen Anstalt ein Stückgewinn von
21 Pfennig, der nicht zuletzt durch die Anwendung einer neuen kosten-
günstigen Vervielfältigungstechnik erzielt wurde. In dem aus Gotha
stammenden jungen Drucker Carl Schönert fanden Richard Andree und
Gustav Marx einen ehrgeizigen Geschäftspartner, der sich auf das
Druckverfahren der Zinkographie spezialisiert hatte.
Das von Firmin Gilliot in Paris entwickelte Verfahren der Hoch-
ätzug von Zinkplatten hatte in Frankreich bereits in den fünfziger
Jahren den Holzstich in der Reproduktionstechnik verdrängt. In
Deutschland kam es erst zu Beginn der siebziger Jahre zum Zuge, und
Carl Schönert war einer der ersten, der es konsequent für den Land-
kartendruck nutzte. Das zunächst anhand einer Zeichnung in den Stein
seitenverkehrt gravierte Kartenbild wurde im Umdruckverfahren
(damals auch »Überdruck« genannt) vom Stein abgezogen, in säure-
beständiger Tusche auf eine Zinkplatte übertragen und chemisch hoch-
geätzt. Die druckenden Partien standen also auf der fertigen Platte
erhaben und wiederum seitenverkehrt wie die Schriftzeichen bei einer
normalen Hochdruckform. Während das gängige Steindruckverfahren
mit der lithographischen Presse wegen des schweren Gewichts und des
p. 172
dauernd erforderlichen Feuchtens des Steins arbeitsintensiv und zeit-
aufwendig war; konnten von den geätzten Zinkplatten mit der Buch-
druck-Schnellpresse problemlos hohe Auflagen gedruckt werden. Auch
nach der Einführung der Steindruckschnellpresse blieb der unkompli-
zierte Fortdruck von den Zinkplatten, von der Kostenseite betrachtet,
dem lithographischen Flachdruck vom Stein überlegen. Wie vorteilhaft
das im Grunde simple Verfahren gewesen sein muß, läßt sich schon
daran ablesen, daß Carl Schönert und seine Leipziger Nachfolger, die
Gebrüder Gaebler, nahezu sechzig Jahre lang die Hauptwerke der
Geographischen Anstalt von Velhagen & Klasing in dieser bewährten
Technik gedruckt haben.
Der insgeheim erhoffte durchschlagende Erfolg des Andreeschen
Volksschulatlasses verschaffte der noch jungen Leipziger Kartographie
nach innen und nach außen größere Bewegungsfreiheit. Gegenüber
dem Bielefelder Stammhaus, dem stillen Geldgeber, brauchte man nicht
noch einmal seine Existenzberechtigung nachzuweisen, und auf dem
Markt für kartographische Werke hatte man sich als leistungsfähiger
Partner des Buchhandels vorgestellt. Es war nun nicht mehr strittig, daß
die Anstalt eine breitere personelle Basis benötigte. Die Zahl der
beschäftigten Lithographen wurde verdoppelt, und das kleine Team der
Kartenzeichner wuchs im gleichen Rhythmus mit. Je nach Auftragslage
mußten jedoch auch weiterhin Arbeiten an auswärtige Kartographen
vergeben werden. Die vorzügliche interne Organisation des Unter-
nehmens wurde unterdessen in den folgenden vier Jahren auch nach
außen hin sichtbar: In erstaunlich kurzen Zeitabständen legte die
Geographische Anstalt bis 1880 ein programmatisches Werk nach dem
andern vor.
Noch vor dem Ende des Jahres 18 76 erschien die erste Abteilung des
Physikalisch-Statistischen Atlasses des Deutschen Reiches, für den Andree
und der bekannte Geograph Oskar Peschel als Herausgeberverantwort-
lich zeichneten. Peschel verstarb bereits in der Vorbereitungsphase,
doch konnten aus seinem Schülerkreis fähige Mitarbeiter herangezogen
werden, die das Projekt zu Ende rührten. Die zweite Abteilung des im
Großfolio-Format angelegten Kartenwerks wurde 1878 ausgeliefert.
Der bei einem Preis von dreißig Mark für das kartonierte Exemplar nicht
gerade billige Atlas handelte zum einen in Höhenschichten-, Klima- und
Bodenkarten konventionelle Themen der physischen Geographie ab,
stieß aber zugleich in einer Serie von demographischen Karten in fach-
p. 173
wissenschaftliches Neuland vor. Die für die Umsetzung ins graphische
Bild intensiv aufbereiteten statistischen Daten stammten aus dem Zeit-
raum von 1867 bis 1875 und waren also bei Erscheinen des Werks von
wünschenswerter Aktualität. Der interessierte Betrachter konnte sich
im einzelnen ein Bild von der »Bevölkerungsdichtigkeit« Deutsch-
land, von den Sterbe- und Geburtenraten einzelner Regionen oder von
der Relation zwischen ehelichen und unehelichen Geburten in der Stadt
und auf dem Lande machen. Einen dritten Schwerpunkt bildeten die
Übersichten zu den agrarischen Verhältnissen im Deutsch Reich. Eine
Karte, die dem Betrachter das »Grossvieh auf die Bevölkerung verteilt«
vor Augen führte, mag heute kurios anmuten; für den en Agrarexperten der
damaligen Zeit war sie sicherlich eine willkommene Handreichung.
Schon seines stattlichen Preises wegen vermochte der auf den
spezialisierten Benutzer zugeschnittene Atlas keine große Breiten-
wirkung zu erzielen. Die erste Auflage wurde zwar in fünf Jahren restlos
verkauft, doch räumte man verlagsintern einer Neubearbeitung keine
Chancen ein, zumal das zugrundeliegende statistische Material durch-
weg auf den neuesten Stand hätte gebracht werden müssen. Die nicht zu
eng an aktuelle Daten gebundenen Karten fanden jedoch Aufnahme in
dem 1879 erstmals erschienenen Gymnasial- und Realschul-Atlas, den
Andree in Zusammenarbeit mit Friedrich Wilhelm Putzger heraus-
brachte, einem Beiträger zum Physikalisch-Statistischen Atlas, der nach
seinem in Leipzig absolvierten Studium inzwischen im sächsischen
Rochlitz als Realschuloberlehrer tätig war. In dem achtundvierzig
Karten umfassenden Lehrwerk wurden auch einige Karten voraus-
publiziert, die aus einem in aller Stille vorbereiteten und kurz vor dem
Abschluß stehenden großen Handatlas stammten. Aus diesem für den
Außenstehenden nicht ohne weiteres erkennbaren genetischen Zusam-
menhang ergab sich das für einen Schulatlas ungewöhnliche und für die
Unterrichtspraxis unhandliche Hochfolioformat des Werkes, von dem
der Verlag bei den späteren Auflagen, den kritischen Stimmen aus schu-
lischen Kreisen Rechnung tragend, Abstand nahm.
Das überaus preiswerte Kartenwerk wurde von der Fachkritik ein-
hellig begrüßt, weil es der physischen Geographie den Vorrang vor der
politischen einräumte und mit den thematischen Karten etwa zur Stadt-
entwicklung oder zur Bevölkerungsdichte dem Erdkundeunterricht
neue Arbeitsfelder erschloß. Der Hallenser Ordinarius Kirchhoff faßte in
einer Rezension das positive Echo auf die wegweisende neue Konzep-
p. 174
tion des Atlasses in dem Satz zusammen, »diese überraschende Gabe«
müsse allen Gymnasien »warm empfohlen werden, in welchen der
geographische Unterricht nicht in den Windeln einer notdürftigen
Topik stecken bleibt oder in Zahlen- und Namenkram ausartet«. 91
Der warme Regen der akademischen Lobeshymnen schlug sich
schon bald in den Absatzziffern nieder. Die Erstauflage war in wenigen
Monaten vergriffen, und im Laufe des Jahres 1880 mußten die hoch-
geätzten Zinkplatten der starken Nachfrage wegen gleich zweimal in die
Schnellpresse gehoben werden. Aber die Konkurrenz blieb auf der Hut
und dachte natürlich nicht daran, dem erfolgreichen Emporkömmling
aus Leipzig das Atlantengeschäft kampflos zu überlassen. Thematische
Karten, denen der Andree-Putzger eben erst den Weg geebnet hatte,
gehörten binnen kurzem zum Standardrepertoire von Atlanten für
»höhere Lehranstalten«. Der entscheidende methodische Vorsprung,
den der Atlas bei Erscheinen für sich beanspruchen durfte, schmolz
schneller als erwartet dahin. Von der Mitte der achtziger Jahre an
verschärfte sich der Konkurrenzdruck vehement. Der nach den anfäng-
lichen Absatzerfolgen auf 20 000 Mark geschätzte Verlagswert des
Atlasses wurde im Bielefelder Bilanzbuch von Jahr zu Jahr nach unten
korrigiert, bis schließlich am Ende des Jahres 1892 noch 4500 Mark zu
Buche standen.
Die Geographische Anstalt unternahm in der Folgezeit mehrere
Anläufe, um das bei den Gymnasialatlanten verlorene Terrain zurück-
zugewinnen. Doch der Überraschungs-Coup, der ihr 1879 mit dem
Andree-Putzger gelungen war, ließ sich nicht ein zweites Mal wieder-
holen. Weder der im Früsommer 1897 ausgelieferte Atlas für Mittel- und
Oberklassen der beiden Gymnasialprofessoren Lehmann und Petzold
noch der spätere Neue Schulatlas, den der am Luisenstädtischen Gym-
nasium in Berlin wirkende Professor Heinrich Fischer als Stufenwerk
konzipiert hatte, konnten sich auf dem immer enger werdenden Markt
gegen die eingerührten Kartenwerke durchsetzen. Der 1907 vorgelegte
Unterstufenband von Fischer hatte einen denkbar unglücklichen Start.
Unmittelbar nach Erscheinen des Buches sah sich die Geographische
Anstalt mit der Klage eines bekannten Konkurrenten aus Braunschweig
konfrontiert, der in einigen Blättern kunstvolle Nachbildungen von
Karten aus dem noch bekannteren Atlas von Carl Diercke erkennen zu
können glaubte. Der vom Kläger ans Licht der Öffentlichkeit gebrachte
Streit endete schließlich im Oktober 1907 mit einem Vergleich. Doch der
p. 175
Makel des behaupteten Plagiats blieb, wie so häufig, an dem Werk
hängen, und es bedurfte mehrerer gründlicher Überarbeitungen, ehe
sich der Stufenatlas, der bis zum Ende der zwanziger Jahre in verschie-
denen Fassungen angeboten wurde, zu einem gangbaren Artikel ent-
wickelte.
Bei den Volksschulatlanten blieb unterdessen der Leipziger Karto-
graphie das Glück treu. Der seit 1876 bestens eingeführte Andreesche
Allgemeine Volksschulatlas behauptete seine Marktposition, obwohl im
Laufe der Jahre mehrere Konkurrenten auf den Plan traten, die den Preis
von einer Mark für die 32 Seiten umfassende Kartensammlung noch
unterboten. Ein als besonders gefährlich eingestuftes Konkurrenzwerk
vermochte die Geographische Anstalt zu entschärfen, indem sie es
kurzerhand aufkaufte. 1890 erwarb sie den von dem Bürgerschul-
Direktor Rudolf Schmidt entworfenen und soeben im Verlag der Artisti-
schen Anstalt und Buchdruckerei von Rudolf Loes in Leipzig erschie-
nenen Volksschulatlas, den sie unverzüglich in einer hohen zweiten Auf-
lage zum Kampfpreis von sechzig Pfennig herausbrachte.
Das Ergebnis der wagemutigen Billigpreis-Aktion dürfte die Erwar-
tungen, die man in Leipzig und Bielefeld mit dem Atlas-Projekt ver-
knüpft hatte, bei weitem übertroffen haben. Die einmal erzeugte Nach-
frage stabilisierte sich schnell auf einem hohen Niveau. Bereits am Ende
des zweiten Jahres nach der Übernahme durch Velhagen & Klasing
wurde die zehnte Auflage ausgeliefert. Doch dies war erst der Anfang
einer in der Tat staunenswerten Auflagenserie, die sich über vier Jahr-
zehnte hinweg ungebrochen im gleichen Rhythmus fortsetzte. In dem
zu Ostern 1928 ausgegebenen neuen Preisverzeichnis der Schulbücher,
Schulausgaben und Lesebogen wurde die 172. (!) Auflage des Atlasses zum
Ladenpreis von 1,20 Reichsmark für das geheftete Exemplar angeboten.
Gemessen an der Skala der damaligen Schulbuchpreise war das nütz-
liche Werk noch immer so preiswert wie vierzig Jahre zuvor.
In welcher Höhe sich die Auflagen des von Jahr zu Jahr mehrfach
nachgedruckten Volksschulatlasses bewegt haben, läßt sich, da exaktes
Datenmaterial nicht überliefert ist, nur noch annähernd erschließen.
Vom ersten Bilanzstichtag an wurde der Verlagswert im Bielefelder
Inventarium auf über 40 000 Mark geschätzt. Im Vergleich dazu nahmen
sich etwa die 15 000 Mark für das gesamte Oeuvre der Sophie Wörishöf-
fer in der Aufstellung zum 31. Dezember 1892 recht bescheiden aus. Da
den Schätzwerten in der Regel der vierfache Jahresertrag eines Titels
p. 176
zugrunde gelegt wurde, kann man für die Jahre 1891 und 1892, in denen
je vier Nachdrucke auf den Markt kamen, bei einem zu vermutenden
Stückgewinn von zehn Pfenning eine durchschnittliche Auflagenhöhe
von mindestens 25 000 Exemplaren ansetzen.
In der Folgezeit werden die Absatzzahlen eher gestiegen als gesun-
ken sein; denn es war geradezu vorprogrammiert, daß der extrem
niedrig kalkulierte Schmidt den vergleichsweise teuren hauseigenen
Andree allmählich verdrängen würde. Das erste Opfer der erfolgreichen
Billigpreis-Strategie war die Sonderauflage des Andree für sächsische
Schulen. Im Verlagskatalog von 1892 findet sich dazu an unauffälliger
Stelle die in Petit gesetzte lakonische Notiz: »Die Ausgabe für Sachsen-
Thüringen ist eingegangen.« 92 Dennoch scheint es bis zum Ausbruch
des Ersten Weltkriegs durchaus gewinnbringend gewesen zu sein, beide
Atlanten nebeneinander im Programm zu führen, zumal der Allgemeine
Volksschulatlas auch in einer Version angeboten wurde, die den Schwer-
punkt auf die politische Geographie des deutschen Reichs legte. Nach
1918 räumte jedoch die Leipziger Kartographie ihrem ersten Schulbuch
keine Absatzchancen mehr ein und konzentrierte sich ganz auf den
Vertrieb des Schmidtschen Werks, dem sie durch die Ausgabe einer Serie
neubearbeiteter Regionalauflagen auch neue Absatzgebiete erschloß.
Waren die Volksschulatlanten vom ersten Tag ihres Erscheinens an
auf einen aufnahmebereiten Markt gestoßen, so mußte für das zweite
schulische Projekt der Geographischen Anstalt, den im März 1877
erschienenen Historischen Schul-Atlas zur alten, mittleren und neuen
Geschichte von Friedrich Wilhelm Putzger, überhaupt erst das Interesse
der erwünschten Zielgruppe ausgelotet und gefördert werden. Die
Arbeit mit einem Geschichtsatlas war in der Unterrichtspraxis jener
Tage noch keineswegs selbstverständlich. Einer weiten Verbreitung der
vom Buchhandel angebotenen Atlanten standen oft genug die hohen
Preise im Wege, die ihrerseits aus den bescheidenen Auflagenhöhen
resultierten. Die ungute Situation zu überwinden, war die erklärte
Absicht des Leipziger Verlags: Der Preis mußte fallen, wollte man den
Geschichtsatlas als Arbeitsinstrument für die Schule attraktiv machen.
Nicht ohne Geschick unternahmen es die Leipziger, ihre interne
Preiskalkulation der schulischen Öffentlichkeit gegenüber als päd-
agogische und soziale Wohltat darzustellen. »Dieser Atlas«, hieß es im
Vorwort zur ersten Auflage des Putzger, das auch als Werbetext diente,
»ist von der Verlagshandlung deshalb zu so billigem Preise angesetzt
p. 177
worden, um den Gebrauch des Geschichtsatlas in den höheren Schulen
ebenso allgemein zu machen, wie den Gebrauch des Volksschulatlas in
der Volksschule. Der hohe Preis der vorhandenen besseren Geschichts-
atlanten schränkte bisher den Gebrauch auf bemitteltere Schüler ein.
Und doch wird keine Meinungsverschiedenheit darüber bestehen, daß
es zur Belebung des Geschichtsunterrichts wünschenswert wäre, wenn
jeder Schüler ohne Ausnahme einen Geschichtsatlas besitzen könnte,
am besten einen solchen, dessen Inhalt für den Gebrauch von den unte-
ren bis zur obersten Klasse ausreichte.« Der jetzt vorgelegte Atlas biete
die Chance, das »Wünschenswerte« Wirklichkeit werden zu lassen; denn
er stehe »an Güte den vorhandenen nicht nach« und werde »für ein
Drittel oder Viertel der bisherigen Preise« ausgeliefert.
Es fehlte auch nicht der Hinweis auf die Risiken, die der Verlag mit
dem Preis von anderthalb Mark für das geheftete Exemplar auf sich
genommen habe: »Die Verlagshandlung verkennt nicht«, sagte der
Werbetext, »daß der Verbrauch an Geschichtsatlanten, wie er in seinen
bisherigen Schranken war, überhaupt nicht gross genug ist, um einen
Atlas zu solchem Preis aufrecht zu erhalten. Sie hat jedoch geglaubt,
durch das Angebot vorliegenden Werks das Bedürfnis steigern und
einen allgemeinen Gebrauch hervorrufen zu können, der dann erst
diesen Preis rechtfertigen würde.« 93 Wer es verstand, zwischen den
Zeilen zu lesen, dürfte bemerkt haben, daß sich die Geographische
Anstalt ihrer Sache ziemlich sicher war. Die klassische ökonomische
Rechnung, nach der das Angebot die Nachfrage erzeugt, ging selbst-
verständlich auf, und es bedurfte lediglich einer Anlaufphase von vier
Jahren, bis sich die im Bilanzbuch festgehaltenen Absatzzahlen bei jähr-
lich 20 000 Exemplaren eingependelt hatten.
Dabei konnte man es dem schmalen und im unhandlichen Quer-
format eher einem Notenbüchlein ähnelnden Heft bei seinem Erschei-
nen wohl kaum ansehen, daß es sich zu einem Standardwerk für den
Geschichtsunterricht entwickeln würde. Aber der 1877 achtund-
zwanzigjährige Realschuloberlehrer Friedrich Wilhelm Putzger, der von
seinem Studiengang her Historiker und Geograph zugleich war,
beherrschte das Metier, geschichtliche Abläufe im Kartenbild zu
veranschaulichen in einem nicht alltäglichen Maße. Dafür spricht schon
die Tatsache daß von den siebzehn Hauptkarten, die in der ersten Auf-
lage der mittelalterlichen und neueren Geschichte gewidmet waren,
allein fünfzehn bis heute im Bestand des Werks geblieben sind. In einer
p. 178
[Bild]
F.W. Putzger Historischer Schulatlas zur alten, mittleren und neuen Geschichte,
1. Auflage 1877. Ausschnitt aus der Karte Deutschland im 17. Jahrhundert.
p. 179
selten gewordenen Schulbuchkarriere – 1980 wurde die 100. Auflage
ausgegeben – hat der Putzger nicht nur ein Jahrhundert europäischer
Geschichte kommentierend begleitet, sondern in einem durchaus ernst-
zunehmenden Sinne selbst Geschichte gemacht. Wenn sich der Wir-
kungsgrad eines Kartenwerks für die Schule auch nicht empirisch
messen läßt, so wird man doch sagen können, daß der Atlas aufgrund
seiner enormen Verbreitung und dank seiner einprägsamen bildlichen
Aussagekraft das Geschichtsbild von Generationen von Schülern beein-
flußt hat. Als Spiegel der sich im Laufe eines Jahrhunderts wandelnden
Geschichtsauffassungen ist er zudem zu einem geschichtlichen
Dokument eigener Art geworden, mit dem sich in[z]wischen auch die
historische Forschung auseinanderzusetzen beginnt. 94
Ein oft zitiertes Beispiel für die bildliche Prägnanz des Putzger ist die
Karte »Deutschland im 17. Jahrhundert« aus der Erstauflage, die in den
jüngsten Ausgaben den Titel »Mitteleuropa nach dem 30jährigen Krieg
(1648)« erhalten hat. Sie bildet den politischen Zustand des Heiligen
Römischen Reichs als einen bunten ›Flickenteppich‹ ab, der als farb-
kräftiges Sinnbild der territorialen Zersplitterung Deutschlands wohl
jedem jugendlichen oder erwachsenen Benutzer des Atlasses im
Gedächtnis geblieben ist. Die ins Extrem getriebene Akzentuierung der
politischen Zerrissenheit Deutschlands entsprach jedoch keineswegs
der kartographischen Tradition des 17. Jahrhunderts, in der noch die Ein-
teilung des Reichs in die großflächigen Reichskreise vorherrschte. Der
›Flickenteppich‹ deutete die geschichtliche Situation aus der preu-
ßischen Perspektive der Bismarck-Zeit: Vor dem Hintergrund der
bunten Folie der unseligen deutschen Kleinstaaterei erschienen der Auf-
stieg des brandenburg-preußischen Staates und die Einigung des Reichs
unter der Führung Preußens als notwendiger Gang der Geschichte.
Diese ganz »preußische« Interpretation der neueren deutschen
Geschichte trat in den Bearbeitungen des Putzger in der Wilhel-
minischen Zeit noch schärfer hervor. Die seit der Erstauflage von 1877
die Abteilung zur europäischen Geschichte beschließende Karte »Ent-
wicklung des brandenburgisch-preußischen Staates« wurde 1888 zu
einer Kartenserie erweitert und 1896 mit Hilfe von Klappkarten auf ein
großes Format gebracht. Zusammen mit der ihr stets vorangehenden
Karte zu den Schauplätzen der »deutschen Einheitskriege« war sie
zugleich die mit Abstand am stärksten verbreitete Karte aus dem Putz-
gerschen Werk; denn beide Karten wurden vom Ende der achtziger
p. 180
Jahre an auch in den Andreeschen Allgemeinen Volksschulatlas über-
nomen.
Doch trotz aller Sympathie für Preußen, die Bearbeiter und Verlag an
den Tag legten, blieb der Putzger ein weltoffener Atlas zur europäischen
Geschichte, der sich in zunehmendem Maße auch den außereuro-
päischen Raum erschloß. Bei der ersten grundlegenden Revision des
Kartenwerks für die vierzehnte Auflage von 1888 wurde nicht nur die
politische Neuordnung Italiens und Südosteuropas bis zur Gegenwart
aufgearbeitet, sondern auch die geschichtliche Entwicklung der Ver-
einigten Staaten, die seit der ersten Auflage nicht über das Jahr der
Unabhängigkeitserklärung hinaus dokumentiert worden war, karto-
graphisch auf den neuesten Stand gebracht. Mit zahlreichen neuen
Karten zur Zeitgeschichte antwortete der Verlag auf einen Erlaß des
preußischen Kultusministers, der die intensivere Behandlung der
»neuesten Geschichte« im Unterricht gefordert hatte. 95
Die stark erweiterte Auflage von 1888 markierte in der äußeren wie
in der inneren Geschichte des Historischen Schul-Atlasses einen wichtigen
Einschnitt. Das für die Unterrichtsarbeit unhandliche Querformat
wurde durch einfaches Falzen der Kartenblätter auf das benutzerfreund-
liche und bis heute beibehaltene Hochquart-Format umgestellt. Zum
ersten Mal stammten die zeichnerischen Vorlagen für die neuen Karten
nicht mehr von Putzger selbst, der, inzwischen in Rochlitz zum Direktor
aufgestiegen, sich ganz seiner schulischen Karriere zu widmen
wünschte. Die heikle Aufgabe der Revision des Kartenwerks übernahm
Dr. Alfred Baldamus, ein Mitarbeiter an dem ambitionierten Allgemeinen
historischen Handatlas in sechsundneunzig Karten, den Gustav Droysen,
der Sohn des großen Historikers Johann Gustav Droysen, wenige Jahre
zuvor für die Geographische Anstalt ediert hatte. Das im opulenten
Großfolioformat aufgelegte Werk war von 1885 bis 1886 in zehn Lie-
ferungen erschienen, hatte sich aber trotz des zugkräftigen Namens
seines Herausgebers nicht durchsetzen können. Der Absatz der ersten
(und einzigen) Auflage schleppte sich wohl wegen des hohen Preises
von 25 Mark für das in Halbfranz gebundene Exemplar bis in die neun-
ziger Jahre mühsam dahin. Baldamus verstand es indessen, die unbe-
strittene wissenschaftliche Qualität des Droysenschen Werks durch die
Übernahme neuer Karten und die entsprechende Korrektur des vorhan-
denen Materials auf den Putzger zu übertragen, und er hat sich, wie im
übrigen auch die ihn in den zwanziger Jahren ablösenden Bearbeiter,
p. 181
später erfolgreich bemüht, das schulische Kartenwerk stets auf dem
aktuellen Stand der Forschung zu halten.
Nur so konnte der früh begründete gute Ruf des Putzger auf Dauer
befestigt werden. Die ständig verbesserte kartographische Technik trug
das Ihre dazu bei, daß der Historische Schul-Atlas auch über die Grenzen
Deutschlands hinaus zu großem Ansehen gelangte. Unter den regiona-
len Separatauflagen, die das Hauptwerk von Beginn an begleiteten,
befand sich auch eine Version für die Schweiz, die mit einer Sonderkarte
zur »Entwicklung der Eidgenossenschaften« ausgestattet war. Der
österreichische Schulbuchmarkt zeigte sich schon früh aufnahmebereit
für eine eigenständige Ausgabe, die 1889 an den Verlag von A. Pichlers
Witwe & Sohn in Wien überging, aber weiterhin von der Geogra-
phischen Anstalt produziert wurde. Die intensiven Bemühungen der
Leipziger, den Atlas auch auf dem englischsprachigen Markt einzu-
führen, stießen erst nach der Jahrhundertwende auf ein positives Echo.
Von 1909 an erschien eine englische Version im New Yorker Verlag Holt.
Sie wurde von William Shepherd, einem an der Columbia University
lehrenden Historiker, betreut und erlebte bis 1929 sieben Auflagen. Im
Zeichen der Weltwirtschaftskrise, die auch den Buchmarkt schwer traf,
wurde der Historical Atlas nach 1932 nur noch in einer verkürzten Aus-
gabe angeboten. Als letzter Sproß der internationalen Putzger-Familie
begann 1924 eine schweizerische Ausgabe zu erscheinen, deren
Neuentwicklung der traditionsreiche Aarauer Verlag Sauerländer der
Geographischen Anstalt anvertraut hatte.
Angesichts des Zwangs, den Richtlinien und Empfehlungen von
seiten der Schulaufsicht auf die Autoren und Verleger von Schulbüchern
ausüben, kann es nicht überraschen, daß die Bearbeiter des Putzger sich
bei der kartographischen Aufbereitung der »neuesten Geschichte«
besonders eng an die offiziöse Interpretation der Zeitereignisse an-
gelehnt haben. Dieser Grundzug tritt zum Beispiel in der stark erwei-
terten 25. Auflage von 1901 zutage, in der zum ersten Mal die bis dahin
auf das »Zeitalter der Entdeckungen« beschränkte Kolonialgeschichte
aufgerollt wurde. Wie von selbst rückte in der neuen Kartenserie die
»Aufteilung Afrikas« in den Vordergrund, die den jüngst erworbenen
deutschen Kolonialbesitz in einem besonders freundlichen Licht
erscheinen ließ. Fünfzehn Jahre sahen Bearbeiter und Verlag sich in die
nationale Pflichtgenommen, den Putzger zum ›Kriegseinsatz‹ umzu-
gestalten. Der 38. Auflage von 1916 wurden vier Doppelseiten mit
p. 182
Spezialkarten zu den Frontverlauf in Europa beigegeben. Im Jahr
darauf schwoll die Zahl der Frontkarten mächtig an: Die Geographische
Anstalt hatte es für richtig gehalten, ihren 1915 erschienenen und von
Jahr zu Jahr aktualisierten Kleinen Kriegs- und Schlachtenatlas ungekürzt
in den Putzger zu integrieren. Im Einklang mit der martialischen Zugabe
wurde ein entsprechend gestalteter ›Kriegseinband‹ angeboten.
Nach dem Friedensvertrag von Versailles gingen die Schlachten-
pläne des Putzger den Weg in die Makulatur. Die radikal veränderte
44. Auflage von 1923 spiegelte auf ihre Weise die Verunsicherung wider,
die nach Kriegsende und Revolution das politisch-soziale Klima der
Weimarer Zeit prägte. Die politischen Folgen der Niederlage Deutsch-
lands wurden weitgehend ausgeblendet. Eine Fülle neuer thematischer
Karten zur Kultur- und Wirtschaftgeschichte, zur Industrialisierung und
Stadtentwicklung gab dem bis dahin stets ›vaterländisch‹ ausgerich-
teten Werk ein neues politikfernes Gesicht, das bis zum Ende der
zwanziger Jahre von Retuschen verschont blieb.
Aber schon in der 50. »Jubiläumsauflage«, die 1931 unter schwierigen
wirtschaftlichen Bedingungen im verkürzten Umfang von 160 Karten-
seiten erschien, wurden wieder ›vaterländische‹ Töne laut. Die Heraus-
geber Max Pehle und Hans Silberborth brachten in ihr Deutschlandbild
nicht nur die neue Lehre von der Geopolitik ein, sondern formulierten in
Kartenbildern zum »Deutschtum« in der Welt und zum »Deutschen
Volks- und Kulturboden« in Europa auch recht handfeste nationale
Ansprüche. Von dieser politischen Plattform führte, im nachhinein
betrachtet, ein direkter Weg zur Anpassung des Putzger an die völkische
Geschichtsideologie des Nationalsozialismus. Allerdings wurde das
Kartenwerk nicht so total gleichgeschaltet, wie es das militante Vorwort
des neuen linientreuen Hauptherausgebers zur Auflage von 1934 wahr-
haben wollte. 96 Eine Rassenkarte und ein Schaubild zur Entstehung der
Indogermanen wurden bereits nach wenigen Jahren wieder fallen-
gelassen. An ihre Stelle traten 1937 neue ›germanisierte‹ Karten zur Vor-
geschichte, in denen sich Spekulatives etwa zur »Landnahme nordisch-
indogermanischer Bauernvölker zur Jungsteinzeit 4000-1800« fand.
Daß diese Karten erstmals in der Geschichte des Putzger mit den Namen
der Autoren versehen wurden könnte ein Indiz für eine vorsichtige
Distanzierung von seiten des Verlags sein.
Unter den neuen völkischen Vorzeichen nahm die Nachfrage nach
dem Historischen Schul-Atlas wieder zu. Von 1934 an kamen die Neuauf-
p. 183
lagen im gewohnten Jahresrhythmus heraus. Im Kriegsjahr 1942 wurden
die 59. und 60. Auflage ausgeliefert. Danach verlieren sich die bibliogra-
schen Spuren des Kartenwerks. 97 Das Ende des Zweiten Weltkriegs
ließ auch in der Geschichte des Putzger eine Zäsur eintreten.
Obwohl der Werdegang des Historischen Schul-Atlasses oft genug die
Entwicklung der Leipziger Kartographie von Velhagen & Klasing wider-
spiegelt, wird doch der dynamische Aufstieg der Geographischen
Anstalt zu einem Unternehmen von europäischem Rang erst mit dem
Erscheinen des »Großen Andree«, des unter dem Titel Allgemeiner
Handatlas verbreiteten Großfolio-Kartenwerks, in vollem Umfang sicht-
bar. Als die langjährigen Vorarbeiten zu dem auf zehn Lieferungen
berechneten Werk sich im Frühjahr 1888 [1880] endlich ihrem Ende näherten,
wurde die Werbekampagne für den Handatlas mit einem Paukenschlag
eröffnet: »Die Verlagshandlung bietet hiermit etwas«, lautete die selbst-
bewußte Botschaft an den Buchhandel und das Publikum, »was vor ihr
noch niemand, zu keiner Zeit und in keinem Lande zu unternehmen
gewagt hat: einen großen Handatlas von vollendeter Ausführung und
auf dem neuesten Standpunkte der Wissenschaft stehend für Zwanzig
Mark. Dieser Thatsache etwas hinzuzufügen ist unnötig: fortan wird
der große Specialatlas, bisher vermöge seines Preises ein Privilegium
enger Kreise, Allgemeingut werden.« 98
Die Leute von Velhagen & Klasing übertrieben nicht. Es wäre sogar
erlaubt gewesen, den angekündigten Preis als sensationell zu bezeich-
nen; denn für vergleichbare Atlanten mußte der interessierte Karten-
liebhaber um 1880 etwa das Dreifache zahlen. Und die Qualität der
Karten hielt kritischer Prüfung stand. Sensationell war aber auch die
Reaktion des Publikums. Otto Klasing hatte nach der Aussendung der
ersten Lieferung in 30 000 (!) Ansichtsexemplaren darauf gehofft, bis
zum Erscheinen des Schlußbogens 10 000 Festbezieher anwerben zu
können. Dieses ehrgeizig erscheinende Ziel wurde bereits nach einer
Woche erreicht. Die Auflage der zweiten Lieferung mußte von 10 000
auf 30 000 Exemplare aufgestockt werden, und in der gleichen Höhe
Wurde ein Nachdruck der ersten Lieferung fällig. Die Ende Mai 1880
ausgegebene dritte Lieferung erschien wegen der stetig anwachsenden
Abonnentenzahl bereits in 60 000 Exemplaren. Von der zweiten Liefe-
rung mußten nun wiederum 30 000, von der ersten Lieferung nochmals
30 000 Exemplare nachgedruckt werden. Es wurde für alle Beteiligten
ein turbulentes Jahr.
p. 184
[Bild]
Richard Andree’s Allgemeiner Handatlas, 1880/1881. Ausschnitt aus der Karte
Wien, Prag, Buda-Pest nebst Umgegend.
p. 185
Schon die Papierbeschaffung bereitete den zuständigen Mitarbei-
tern Kopfzerbrechen. Lediglich die Straßburger Papiermanufaktur war
am Ende imstande, den Spezialkarton zu liefern, der sich beim acht-
fachen Durchgang durch die Schnellpresse nicht dehnte und auch beim
Falzen bruch- und reißfest blieb. Die Druckerei von Carl Schönert stieß
bald an die Grenzen ihrer Maschinenkapazität. In zwei Schüben mußten
neue Schnellpressen in Gang gesetzt und ein weiterer Maschinenraum
eingerichtet werden. Trotz mancher kritischer Stimmen aus dem orga-
nisierten Buchhandel, die sich gegen die Billigpreis-Strategie aus-
sprachen, setzte sich das Sortiment mit ungeahntem Eifer für den
Handatlas ein. Viele Buchhändler schlossen sich zu Bezugsgemein-
schaften zusammen, um in den Genuß des Höchstrabatts von fünfzig
Prozent zu kommen, der bei einer Abnahme von fünfhundert Exem-
plaren gewährt wurde. Da es zu jener Zeit noch durchaus üblich war,
Rabatte an den Kunden weiterzugeben, entstand mitunter auf lokaler
Ebene ein heftiger Wettbewerb in der Werbung um potentielle Fest-
bezieher. Ein im Nachbarhause der Geographischen Anstalt tätiger
Sortimenter scheute sich denn auch nicht, den gebundenen Handatlas in
seinem Schaufenster zum Preis von fünfzehn Mark auszulegen, konnte
er doch auf diese Weise manchen Interessenten vom Direktkauf bei
Velhagen & Klasing abhalten. 99
Die Hauptlast der von Lieferung zu Lieferung hektischer werdenden
Vertriebsarbeiten hatte die kleine Mitarbeiterschar der Daheim-
Expedition zu tragen. Die Anzeigenverwaltung des Familienblatts
brach mehrmals zusammen, weil der zuständige Kontorist von Tag zu
Tag die Fortsetzungslisten für das Kartenwerk anhand der massenhaft
einlaufenden Bestellungen auf den neuesten Stand bringen mußte. Bis
zur Ausgabe der Schlußlieferung im Frühjahr 1881 stieg die Zahl der
Festbezieher auf über 120 000 an. Von den insgesamt 150 000 komplet-
ten Exemplaren der Erstauflage, die sich, wie geschildert, aus Erst- und
Nachdrucken der einzelnen Lieferungen zusammensetzten, waren am
Ende des Jahres 1881 nur noch 17 400 am Lager vorrätig. August Klasing
wußte genau, wovon er sprach, als er im Jubiläumskatalog von 1885
rückblickend den Verkaufserfolg des Großen Andree »zu den seltenen
im deutschen Buchhandel« zählte. 100 Der mit steigender Auflagenhöhe
immer kostengünstiger werdende Fortdruck von den Zinkplatten hatte
der Geographischen Anstalt trotz der zur Markteinführung notwen-
digen großzügigen Staffelrabatte einen Stückgewinn von acht Mark
p. 186
beschert und in der später alle Lieferungsbeziehern zum Preise von
3,50 Mark angebotenen »gediegenen Einbanddecke« steckte noch
einmal ein Verlagsanteil von knapp einer Mark. Otto Klasing war in der
Tat eine außerordentliche verlegerische Leistung geglückt, die selbst
der im Atlantengeschäft etablierten Konkurrenz Respekt abnötigte.
[Bild]
Prof. Dr. Richard Andree (1835-1912).
Der spektakuläre Durchbruch des Allgemeinen Handatlasses auf
einem hart umkämpften Sektor des Buchmarkts war freilich auch ein
persönlicher Triumph für Richard Andree, der das Kartenwerk konzi-
piert und über mehrere Jahre hinweg wissenschaftlich betreut hatte.
Seine Leistung gewinnt noch an Gewicht, wenn man sich daran erinnert,
daß er mich dem Vertrag vom 17. Mai 1873 lediglich an den Vormittagen
die Aufsicht über die die Kartographie führte, an den Nachmittagen aber
weiterhin die Arbeiten eines Bildredakteurs für das Daheim versah. Den
komfortablen sechsstelligen Gewinnanteil aus dem Verkauf der Erst-
auflage durfte Andree deshalb zu Recht als einen verdienten Ausgleich
für die mühevollen Aufbaujahre ansehen, in denen er mit dem vertrag-
lich zugesicherten Minimum von 1500 Thalern hatte haushalten
müssen.
p. 187
Doch für den dynamischen Verleger wie für den umsichtigen wissen-
schaftlichen Kopf des Atlas-Unternehmens verbot es sich von selbst
sich auf den erworbenen kartographischen Lorbeeren auszuruhen. Die
stattlichen Überschüsse wurden in den technischen und personellen
Ausbau der Geographischen Anstalt investiert. Der Handatlas selbst
mußte, um konkurrenzfähig zu bleiben, kontinuierlich überarbeitet und
auf den neuesten Stand gebracht werden. Das damalige Kartenbild der
Erde wies immerhin beträchtliche weiße Flecken auf: Weite Landstriche
Afrikas und Zentralasiens harrten der Entdeckung, und die Erforschung
der Polarzonen steckte noch in den Anfängen. Der rapide Ausbau der
Eisenbahnnetze ließ insbesondere die Verkehrskarten schnell veralten.
Und nicht zuletzt mußten die Kartographen den von politischen
Umwälzungen verursachten Grenzverschiebungen nach den Regeln
ihrer Kunst auf der Spur bleiben.
Schon für den Nachdruck der einzelnen Lieferungen zur Erst-
ausgabe waren Stich- und Setzfehler sowie Ungenauigkeiten in den Vor-
lagen korrigiert worden. Bis zum Erscheinen der auf 120 Kartenseiten
erweiterten zweiten Auflage von 1887 gab der Verlag der stetigen Nach-
frage wegen mehrere sogenannte »verbesserte Abdrucke« heraus, in
denen einige Karten durch neue ersetzt, andere von Grund auf über-
arbeitet waren. Eine solche dem ständigen Korrekturprozeß angepaßte
Form der Veröffentlichung ermöglichte es der Geographischen Anstalt,
überholte Karten kurzfristig auszutauschen und auf neue Entwick-
lungen in Konkurrenzwerken schnell und flexibel zu reagieren.
Das Einschalten von »Verbesserten Abdrucken« brachte überdies
den Vorteil mit sich, daß für die intensiven Vorarbeiten zu den Haupt-
auflagen und nicht zuletzt auch für den Entwurf neuer Kartenkomplexe
ein größerer zeitlicher Spielraum zur Verfügung stand. So wurden etwa
für die dritte Auflage von 1893 sämtliche Karten zu den deutschen
Staaten und Provinzen im größeren Maßstab neu bearbeitet, gezeichnet
und gestochen. In der vierten Auflage von 1899 fand der Benutzer eine
Folge neuentwickelter Karten zur allgemeinen Erdkunde, die den
wissenschaftlichen Wert des Handallasses beträchtlich erhöhten. Für die
als Jubiläumsausgabe angekündigte fünfte Auflage, die 1906 in fünfund-
zwanzigsten Jahr nach dem Debüt des Großen Andrer im Umfang von
207 Kartenseiten erschien, schuf die Geographische Anstalt einen
Neuentwurf der großen Blätter von Afrika. Die letzte bedeutende
Erweiterung erfuhr der Handatlas in der in den ersten Kriegsmonaten
p. 188
des Jahres 1914 vollendeten sechsten Auflage: Auf den Rückseiten der
Kartenblätter wurden erstmals großzügig gestaltete Umgebungskarten
großer Städt und touristischer Zentren dargeboten.
Eine wichtige Korrektur am Konzept des Kartenwerks hatte Richard
Andree sofort nach Erscheinen der Erstausgabe vorgenommen. Die
insgesamt 96 Folioseiten füllenden Erläuterungen zu den einzelnen
Karten wurden aus dem Atlas ausgegliedert. Von zahlreichen Fach-
spezialisten unterstützt, arbeitete Andree die kompakten Kurzinfor-
mationen unter »besonderer Berücksichtigung kommerzieller, statisti-
scher und politischer Verhältnisse« zu breit angelegten länder-
kundlichen Sachartikeln aus, die vom Ende des Jahres 1881 an in zehn
Lieferungen als Geographisches Handbuch zu Andree’s Handatlas auf den
Markt kamen. Das bei einem Ladenpreis von zehn Mark und einem
Umfang von nahezu tausend Seiten überaus preisgünstige Nachschlage-
werk setzte sich spielend durch und war innerhalb von zwei Jahren
vergriffen. Bereits wenige Wochen nach der Ausgabe der ersten
Lieferungen wurde der »muthmaßliche Gewinn« aus dem Projekt im
Bielefelder Inventarium auf stattliche 62 000 Mark geschätzt. 101
An die Stelle der Erläuterungen trat in der zweiten Auflage des
Großen Andree ein Verzeichnis sämtlicher in den Karten vorkommen-
der Namen mit genauer Standortangabe nach Kartenseite und Plan-
quadrat – eine aus heutiger Sicht selbstverständliche Arbeitshilfe, die
dem Benutzer den Umgang mit dem Atlas erleichterte. Das neue
Register dokumentierte im nachhinein auch die hohe Informations-
dichte des Kartenwerks. Den 120 Kartenseiten standen nicht weniger als
112 Registerseiten gegenüber. Im Zuge der ständigen Erweiterung des
Werks stieg die Zahl der eingezeichneten Orts- und Eigennamen
zwangsläufig mit an, zumal die Einführung größerer Kartenmaßstäbe
das Anwachsen der Detailfülle begünstigte.
Das Registermachen entwickelte sich bei jeder anstehenden Neu-
auftage zu einer strapaziösen und hektischen Akkordarbeit. Die Namen
mußten aus den Karten abgeschrieben, alphabetisch geordnet und
redaktionell aufbereitet werden. Allein an der Ordnung der rund
200 000 Namen für das Register zur vierten Auflage arbeiteten 1898
sechs Setzer dreizehn Wochen lang bei einem Tagespensum von neun
Stunden. 102 Die redaktionelle Durchsicht der Zettelmassen nahm ein
weiteres Vierteljahr in Anspruch. Gleichlautenden Ortsnamen mußten
präzise Annotationen beigegeben werden, und das Aufspüren der
p. 189
unvermeidlichen Kopierfehler erforderte mehrere Korrekturgänge. Da
das Namenregister von Auflage zu Auflage an Eigengewicht gewann,
war es letzten Endes ein konsequenter Schritt, es bei der sechsten
Auflage des Kartenwerks von 1914 separat gebunden auszugeben.
Allen Bemühungen der Leipziger, den Handatlas durch ständiges
Überarbeiten auf einem erstklassigen kartographischen Niveau zu
halten, lag das Motiv zugrunde, die mit dem sensationellen Absatz der
Erstauflage errungene Marktposition zu festigen und weiter aus-
zubauen. Otto Klasing verfolgte von Beginn an den Plan, das positive
ausländische Echo auf das Erscheinen des Großen Andree in konkrete
Anschlußprojekte umzusetzen. Den ersten bedeutenden Erfolg konnte
er bereits wenige Monate nach der Ausgabe der Schlußlieferung zum
Handatlas vorweisen: Im Oktober 1881 begann der Atlas Manuel de
Géographie Moderne zu erscheinen, eine französische Version des Großen
Andree, die vom Verlagshaus Hachette & Cie. vertrieben wurde. Dieser
eigenständige französische Atlas kam jedoch über die erste Auflage
nicht hinaus. Der Pariser Verlag übernahm später jeweils Teilauflagen
der deutschen Überarbeitungen, die mit einem französischsprachigen
Titelbogen ausgestattet wurden.
Johannes Klasing setzte die von seinem früh verstorbenen Bruder der
Leipziger Kartographie vorgezeichnete internationale Verlagspolitik
konsequent fort. Er erkannte rechtzeitig, daß Richard Andree seiner
labilen Gesundheit wegen »die Geschäfte der Anstalt« nicht mehr »mit
Umsicht & Thatkraft zu leiten« vermochte, 103 löste im Frühjahr 1890 auf
elegante Weise in beiderseitigem Einvernehmen des Vertragsverhältnis
und berief mit dem langjährigen ersten Kartographen Albert Scobel
einen fähigen Kopf an die Spitze des Instituts.
Unter Scobels Aufsicht wurde eine englische Bearbeitung des
Großen Andree vollendet, die 1891 bei Cassell & Co. erschien. Die
Geographische Anstalt lieferte zu diesem Werk die druckfertigen hoch-
geätzten Zinkplatten nach London. Nur vier Jahre später wurde eine von
der altehrwürdigen Londoner Times in Auftrag gegebene zweite eng-
lische Version fertig, die unter dem Titel The Times Atlas auf den englisch-
sprachigen Markt kam. Nach dem Vorbild des mit Hachette in Paris
getroffenen Arrangements konnten Teilauflagen der Ausgaben von
1899 und 1906 über die Verlagshäuser Bonnier in Stockholm und Treves
in Mailand abgesetzt werden. Der schwedische Verleger Albert Bonnier
erwies sich dabei als ein schwieriger Vertragspartner. Am Ende der
p. 190
[Bild]
Albert Scobel, ab 1890 Direktor der Geographischen Anstalt, in seinem Arbeits-
zimmer.
Verhandlungen über seine verlegerische Beteiligung an der Jubiläums-
ausgabe mußten ihm die Leipziger zusichern, keine großzügigen Partie-
verkäufe an skandinavische Sortimenter zu tätigen. 104 Den Reigen der
europäischen Variationen zum Großen Andree beschloß vorerst eine
Spezialausgabe für Österreich. Der mit zahlreichen neuentworfenen
Karten der österreichischen und ungarischen Kronländer ausgestattete
Atlas erschien 1904 bei Moritz Perles in Wien. Dank der regen Nach-
frage erlebte er bereits 1909 eine aktualisierte Neuauflage.
Die bemerkenswerte Serie der großen Fremdaufträge leitete zu
Beginn der neunziger Jahre eine Phase stürmischen Wachstums in der
geschäftlichen Entwicklung der Geographischen Anstalt ein. Da
Richard Andrees Nachfolger Scobel nicht mehr am Gewinn des Unter-
p. 191
nehmens beteiligt war, wurden zusätzliche Finanzierungsmittel frei, die
ein vorausschauendes Planen erleichterten. Das Volumen der anstehen-
den Arbeiten expandierte so kräftig, daß die Zahl der technischen Mit-
arbeiter kurzfristig verdoppelt werden mußte. An der Abwicklung der
sich häufig überschneidenden kartographischen Großprojekte waren
nun im Durchschnitt zwölf Zeichner und bis zu zweiundzwanzig
Stecher beteiligt. Mit dem Einzug in das neue Verlagsgebäude an der
Hospitalstraße im Sommer 1898 verbesserten sich auch die äußeren
Rahmenbedingungen für die Arbeit der Leipziger Kartographie. In den
hellen und weitläufigen Sälen des dritten Stockwerks konnten den
Kartenzeichnern und Lithographen jetzt Arbeitsplätze bereitgestellt
werden, die nach den technischen Normen der Zeit gestaltet und auf das
Regelwerk des internen Arbeitsganges abgestimmt waren. Die fach-
wissenschaftliche Bibliothek und die Kartensammlung wurden in ange-
messenen Arbeitszimmern untergebracht. Vor allem standen nun end-
lich die auf lange Sicht benötigten Raumkapazitäten für das mit jedem
neuen Kartenwerk wachsende Steinlager zur Verfügung. Dem Außen-
stehenden vermittelte der repräsentative Bau nicht zuletzt auch einen
Eindruck von der wissenschaftlichen Größe, zu der die Geographische
Anstalt in den fünfundzwanzig Jahren ihres Bestehens aufgestiegen war.
Das Unternehmen auf dem eingeschlagenen Erfolgskurs zu halten,
wurde zu einer vordringlichen Aufgabe. Als dauerhafte Lösung bot sich
in erster Linie eine weitere Auffächerung des Verlagsangebots an. 1898
begann die von Alfred Scobel herausgegebene Reihe der Monographien
zur Erdkunde zu erscheinen, die ein beachtliches wissenschaftliches
Niveau erreichte und sich hinsichtlich der Ausstattung mit Karten und
photographischen Abbildungen durchaus mit der bereits etablierten
Serie der Künstler-Monographien messen konnte. Seit 1894 hatte Scobel
auch das vergriffene Geographische Handbuch seines Lehrmeisters
Andree wiederaufleben lassen, das er von Auflage zu Auflage über die
ursprüngliche Konzeption einer Länderkunde hinaus zu einem fakten-
reichen Kompendium der Wirtschaftsgeographie ausbaute. Aus der
intensiven Arbeit an der inhaltlichen Umgestaltung des Handbuchs ging
als kartographisches Pendant Scobels Handelsatlas zur Verkehrs- und
Wirtschaftsgeographie 1902 hervor, der seiner speziellen Thematik wegen
jedoch nur von einer begrenzten Zielgruppe angenommen wurde.
Auf breite Zustimmung stieß dagegen das Vorhaben, den immer
umfangreicher werdenden Handatlas in einer kleinen populären Fassung
p. 192
zu einem für jedermann erschwinglichen Preis auf den Markt zu bringen
Der 1901 im Umfang von hundert Kartenseiten ausgegebene Neue Volks-
und Familienatlas führte sich gut ein und blieb in der Folgezeit ein
ständiger Begleiter des großen Kartenwerks. Von 1912 an wurde er unter
dem schlichten, aber präzisen Titel Velhagen & Klasing Kleiner Handatlas
angeboten.
Unbehelligt von den vielfältigen Aktivitäten zur Ausweitung des
Verlagsangebots schritt die ständige Revision des Großen Andree voran,
die auch weiterhin im Arbeitsprogramm der Geographischen Anstalt
uneingeschränkte Priorität genoß. Alfred Scobel mußte sich im Herbst
1911 seiner angegriffenen Gesundheit wegen von dieser herausfordern-
den Aufgabe zurückziehen. An seine Stelle trat wiederum ein lang-
jähriger Mitarbeiter der Kartographie, Dr. Ernst Ambrosius, der mit der
Publikation der sechsten Auflage des Handatlasses ein glänzenden
Einstand hatte. Die ersten Lieferungen der Neubearbeitung konnten im
Juni 1914 auf der Leipziger Bugra, der ersten »Weltausstellung für Buch-
gewerbe und Graphik«, einem fachkundigen internationalen Publikum
vorgestellt werden. Das Echo war überaus positiv, und die sofort ein-
setzende Nachfrage aus dem In- und Ausland wurde auch durch den
Ausbruch der Kriegshandlungen nicht abgeschnitten. Den unangefoch-
tenen internationalen Ruf des Großen Andree bestätigte noch im Juli
1915 eine Fachkritik im ›feindlichen‹ Geographical Journal, die in fairer
Argumentation die kartographische Qualität des Werks ins rechte Licht
rückte.
Von allen Verlagszweigen des Hauses Velhagen Klasing wurde die
Kartographie am wenigsten durch die Kriegsereignisse in Mitleiden-
schaft gezogen. Das Atlantengeschäft belebte sich spürbar, und die in
rascher Folge herausgebrachten Serien von sogenannten ›Kriegs-
karten‹ zu allen Schauplätzen des Kampfgeschehens fanden reißenden
Absatz. Nach dem bitteren Ende des Krieges stand von neuem die
Korrektur des europäischen Kartenbilds an. Die im November 1919
erschienene siebte Auflage des Handatlasses war nur eine Zwischenstufe
zu einer mehrere Jahre in Anspruch nehmenden grundlegenden Neu-
bearbeitung, die alle im Vertrag von Versailles festgelegten Grenz-
ziehungen und Staatenumbildungen zu berücksichtigen hatte.
Am Vorabend der krisenhaften Hochinflationszeit ausgegeben,
stellte die achte Auflage des großen Andree von 1922 den letzten mit
äußerster Anstrengung unternommenen Versuch dar, die Erfolgs-
p. 193
geschichte des Kartenwerks fortzuschreiben. Noch einmal gelang es,
den revidierten Atlas an ausländische Verlage zu vermitteln. Nach zeit-
aufwendigen Vorarbeiten kamen im Laufe des Jahres 1924 eine
schwedische Ausgabe bei Albert Bonnier und eine dänische bei Henrik
Koppel in Kopenhagen heraus. Auf dem deutschen Buchmarkt brachen
dagegen für großformatige Atlanten schwierige Zeiten an. Der all-
gemeine Kaufkraftschwund beschleunigte die am Ende der zwanziger
Jahre heftig diskutierte Bücherkrise, die alle Gattungen der Buch-
produktion erfaßte. Mit dem fünften verbesserten Abdruck der achten
Auflage erschien 1930 im fünfzigsten Jahr nach dem Erstdruck die letzte
auf den neuesten Stand gebrachte Fassung des Großen Andree. Aus den
86 Karten der Erstauflage war ein kartographisches Riesenwerk von
221 Haupt- und 211 Nebenkarten entstanden. Doch im Unterschied zu
dem schmalen Lieferungswerk von 1880/81 hatte der achteinhalb Kilo
schwere zweibändige Foliant von 1930 bei einem Preise von 88 Mark
keine Chance mehr, zu einem »Allgemeingut« im Sinne der Initiatoren
des Atlas-Projekts zu werden. In einer Zeit extremer wirtschaftlicher
Not vermochte selbst das Angebot eines Rabatts von fünfzig Prozent bei
einer Abnahme von nur zehn Exemplaren den Absatz des Kartenwerks
nicht zu beleben.
Gerade noch rechtzeitig wurden in Leipzig die Weichen zur Ent-
wicklung eines neuen, der Marktsituation besser angepaßten kleinen
Handatlasses gestellt. Das von Ernst Ambrosius und seinem späteren
Nachfolger Konrad Frenzel gemeinsam konzipierte Werk fußte auf einer
Auswahl von Karten aus dem Großen Andree, denen nach dem Muster
der Erstausgabe von 1880/81 länderkundliche Erläuterungen und
aktuelle statistische Informationen beigefügt wurden. Trotz der widri-
gen Zeitumstände erzielte der 1930 zu Weihnachten unter dem einpräg-
samen Titel Das Bild der Erde vorgelegte Atlas ein achtbares Ergebnis.
Im Sog der sich verschärfenden Rezession geriet jedoch auch die
Geographische Anstalt schon wenige Monate später in größte Schwie-
rigkeiten. Die Arbeitszeit des technischen Personals mußte im
September 1931 auf halbe Tage verkürzt werden, die in der Jahresbilanz
ausgewiesenen roten Zahlen erzwangen im Frühjahr 1932 die Entlas-
sung bewährter Fachkräfte. Alle weniger dringlichen Arbeiten wurden
zurückgestellt. Ein Notprogramm stellte sicher, daß die Revision von
Karten zu den Schulatlanten und zum Bild der Erde nicht ins Stocken
geriet. Die nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten sich
p. 194
abzeichnende scheinbare Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage
erlaubte es der Geographischen Anstalt zwar, zum gewohnten Arbeits-
rhythmus zurückzukehren. Mit ihrem auf vier Kartenzeichner und fünf
Lithographen drastisch reduzierten Mitarbeiterstamm fand sie sich
jedoch dort wieder, wo sie sechs Jahrzehnte zuvor begonnen hatte. An
die große Zeit ihrer verlegerischen Erfolge erinnerte nur noch das
inzwischen auf 9093 Solnhofener Drucksteine großen und kleinen
Formats angewachsene Steinlager. 105 Sein bloßer Materialwert ging in
die Hunderttausende; sein ideeller Wert entzog sich jeder Schätzung.
Und doch war die grandiose Sammlung selbst bei wohlwollender
Betrachtung nur noch ein musealer Bilanzposten, der sich nicht mehr für
die Zukunft aktivieren ließ – und eine Vorwegnahme späterer Trümmer-
felder.
Anmerkungen
p. 242
↑ 24
Katalog der Verlags-Buchhandlung von Velhagen & Klasing (Mai
1880). S. 196
p. 245
↑ 91 Zit. nach dem Katalog von 1880 (wie Anm. 24), S. 173.
↑ 92
Verlags-Katalog von Velhagen & Klasing in Bielefeld und Leipzig (1892),
S. 8.
↑ 93 Zit. nach dem Katalog von 1880 (wie Anm. 24), S. 175-176.
↑ 94
Vgl. hierzu die umfassende Analyse von Armin Wolf: 100 Jahre Putzger –
100 Jahre Geschichtsbild in Deutschland (1877-1977). In: Geschichte in
Wissenschaft und Unterricht. 29.1978. S. 702-718.
↑ 95 So das Vorwort von 1888, zit. nach Wolf (wie Anm. 94), S. 704.
↑ 96 Der Text ist zugänglich bei Wolf (wie Anm. 94), S. 709-710.
↑ 97
Es läßt sich nicht mehr ermitteln, wann die 61. und 62. Auflage erschienen
sind (Wolf, wie Anm. 94, S. 717-718). Die erste Nachkriegsausgabe wurde
1954 als 63. Auflage bezeichnet.
↑ 98 Zit. nach dem Katalog von 1880 (wie Anm. 24), S 167.
↑ 99
Beiträge, S. 225. Der fakten- und anekdotenreiche Abriß der Geschichte der
Geographischen Anstalt in den ›Beiträgen‹ stammt von Karl Tänzler, einem
langjährigen Mitarbeiter der Leipziger Kartographie.
↑ 100 Zit. nach dem Katalog von 1892, S. XII.
↑ 101 Verlagsarchiv CVK Bielefeld, Inventarium. 1882-92, S. 26.
↑ 103
Verlagsarchiv CVK Bielefeld, Verträge mit Richard Andree, Notiz von der
Hand Johannes Klasings vom 29.1.1890.
↑ 104
Tor Bonnier: Längesen. Sammenklippta minnesbilder (Stockhohn 1974),
S. 77-79.
HTML © M. Witkam, 2013